Richard Schindler

Text aus dem Katalog: utulpia heidelbergensis

A case of Identity.
Rede zur Eröffnung und Übergabe des Kunstwerks: Utulpia Heidelbergensis
Hauptzollamt Heidelberg, 11. Oktober 1991 11 Uhr

Eröffnungsreden haben mich immer an Agatha Christie erinnert. Und zwar an all jene Situationen, in denen der Detektiv Hercule Poirot den Kreis der Verdächtigen zusammenruft, um in einem spannenden Gesellschaftsspiel zu eröffnen, wer denn nun der Täter war, wie es zur Tat kam und was die Motive waren. Denn alle drei Fragen und die Form, in der sie öffentlich beantwortet werden, sind offenbar auch bei Ausstellungseröffnungen von großem Interesse. Wer war der Täter? Wie kam es zur Tat? Was waren die Motive? Aber gerade das in solchen Gesellschaftsspielen meist im Vordergrund stehende Interesse an der Person des Täters und die Erwartung, daß er geständig sei, kann einen Künstler dazu veranlassen, einer solchen Veröffentlichung fern zu bleiben. Ihm ist die Tat als solche wichtig und nicht das Interesse an seiner Person oder an dem, was er darüber denkt. Daher sollten Sie ihm sein Fernbleiben auch nicht als Mißachtung auslegen. Im Gegenteil: die Geste bedeutet ja nichts anderes, als daß er das Resultat seiner Arbeit Ihnen anvertraut. Eben das heißt ja: eine Sache publizieren, der Öffentlichkeit des Publikums überlassen. Der Künstler stellt sich nicht vor - er tritt zurück - und steht dazu. Ich darf das, wie übrigens auch das Folgende, in seinem Namen sagen, weil wir seit vielen Jahren miteinander vertraut sind und uns, soweit das überhaupt geht, auch gut kennen.

Übrigens werde ich 20 Minuten sprechen. Manche werden sagen: leider Gottes. Aber billiger ist Nichts zu haben.

Was hülfe es also, wenn der Täter hier wäre, man auf ihn zeigte und Ihnen sagte: das ist er. Sie müßten es hinnehmen: auf Treu und Glauben. Denn Wundmale, auf die der Finger zu legen wäre, tragen Künstler nicht auf der Stirn. Die Identität des Täters wird durch andere bezeugt, und es bleibt kaum mehr, als ihrem Zeugnis Glauben zu schenken. Wie riskant solche Zeugenschaft aber sein kann, ist nicht nur aus Kriminalgeschichten, sondern aus der Geschichte selbst nur allzu bekannt. Da es jahrtausendelang keine Möglichkeit gab, die Identität einer Person zweifelsfrei festzustellen, gab es ebensolange Identitätsbetrügereien, Verbrechen und vor allem tödlich endende Justizirrtümer.

Es war daher eine wahre Sensation, als ein Identifikationsverfahren bekannt wurde, das ein Polizeischreiber namens Alphonse Bertillon im Jahre 1879 erfunden hatte. Denn stellen Sie sich vor, in der Mitte des vorigen Jahrhunderts war es, aus Mangel an geeigneteren Identifikationsverfahren, üblich, in Gefängnissen regelmäßig sogenannte Gefangenen-Paraden abzuhalten, damit sich Beamte die Gesichter der Verurteilten einprägen konnten. Detektive, die, wie Vidocq in Paris, ein phänomenales Gedächtnis besaßen oder, wie John Fielding in London, mehr als 3000 Verbrecher an ihren Stimmen unterscheiden konnten, waren selten. Und die damals gerade erst erfundene Fotografie war auch keine große Hilfe. Wie sollte man im gegebenen Fall die Identität eines Menschen feststellen, wenn man ihn mit Abertausenden meist schlechter Fotografien vergleichen mußte? Was sollte man tun, wenn ein Mensch, was damals ungehindert möglich war, einfach behauptete, er sei der und der? Der verschollene Millionenerbe des Lord James Tichborne z.B. - eine Behauptung, deren Prüfung die englischen Gerichte mehr als 10 Jahre beschäftigte!

Aus den anthropologischen Forschungen seines Vaters war Bertillon bekannt, daß die Wahrscheinlichkeit äußerst gering war, auch nur zwei Menschen zu finden, die exakt die gleichen Körpermaße besaßen. Außerdem wußte er, daß sich diese Maße und ihre Proportionen bei Erwachsenen nicht mehr ändern. Darin lag die einmalige und bis dahin nie genutzte Chance, eine Person einwandfrei zu identifizieren. Nach Bertillons Vorschlag wurden (zunächst nur probehalber und auch nur in Paris) alle Verhafteten mit Hilfe eines ausgeklügelten Systems vermessen. Man maß Kopf und Brustumfang, die Länge der Arme und Beine, der Finger usw. Bis zu 11 verschiedene Körpermaße wurden in einem umständlichen und sicher nicht immer genauen Verfahren abgenommen und in ein ständig wachsendes Karteiensystem ein- getragen. Tatsächlich konnte Bertillon hunderte Personen identifizieren und des Identitätsschwindels überführen. 20 Jahre später, um 1900, hatte die Bertillonage, wie man das Verfahren jetzt nannte, Europa und nahezu die USA erobert.

Das Verfahren hat Bertillon berühmt gemacht. Allerdings für nicht sehr lange. Die spannende Geschichte der Identifikation war mit der Bertillonage nicht zu Ende. Denn fast zur selben Zeit haben der Verwaltungsbeamte William Herschel in Indien und der Arzt Dr. Henry Faulds in Tokio, vollkommen unabhängig voneinander, eine der folgenreichsten Entdeckungen zum Problem der Identifizierung von Personen gemacht. Und, was sicher genauso entscheidend war wie die Entdeckung selbst, sie haben ihre Anwendungsmöglichkeiten erkannt.

Herschel und Faulds entdeckten, daß die sogenannten Papillarlinien an den Fingerkuppen eines jeden Menschen vollkommen einmalig sind und von der Geburt bis zum Tode, ja über diesen hinaus, identisch bleiben. Sie entdeckten zudem, daß auf ganz einfache Art und Weise, mittels simpler Stempelfarbe, ein Bild dieser Li- nienmuster zu erhalten war. Von nun an war es möglich, den Beweis für die Identität einer Person zu erbringen, ohne auf prinzipiell immer zweifelhafte Zeugenaussagen zurückgreifen zu müssen. Man hatte ein Unterscheidungsmerkmal gefunden, das sich auf einfachste Art feststellen ließ und das jeden einzelnen Menschen unter Millionen anderer identifizierbar macht. Alle betrügerischen Ver- suche, dieses Identifikationsmerkmal unkenntlich zu machen, durch Verstümmelung oder Hauttransplantationen, schlugen fehl. Papillarlinien wachsen immer wieder nach und bilden sich neu. Jeder Mensch konnte, wenn sein Fingerbild einmal aufgenommen war, ohne den geringsten Zweifel identifiziert werden. Daß die Fingerbilder eine herausragende Rolle in juristischen Ermittlungsverfahren einnehmen, beruht auf dem ebenso einfachen wie verblüffenden Umstand, daß diese Bilder auch unwillentlich an x-beliebigen Orten, an x-beliebigen Gegenständen von Menschen zurückgelassen werden. Geringste Fettspuren an den Fingern bewirken, daß sich ihre Abdrücke an Gegenständen erhalten und sich später abnehmen lassen. Aber erst 1928 wurde zum ersten Mal in der Geschichte der amerikanischen Justiz ein Fingerabdruck als Indizienbeweis vor Gericht anerkannt. Nachdem das gewaltige Problem der Registratur von Abermillionen Fingerabdrücken gelöst war, waren die Vorteile der Daktyloskopie zur Identifikation von Personen nach Verbrechen, Katastrophen oder Unfällen nicht mehr zu übersehen. Die Bertillonage war durch ein sichereres, schnelleres und einfacheres Verfahren verdrängt worden.

Heute gibt es noch eindrucksvollere, differenziertere Methoden um die Identität einer Person festzustellen. So läßt sich z.B. anhand nur einer einzigen Zelle des menschlichen Organismus die für jeden Menschen einmalige Struktur der Gene ermitteln. Aber schon entstehen, als Reaktion auf diese gentechnologischen Errungenschaften, Visionen die uns die Möglichkeit vor Augen stellen, durch Gen- Manipulation vollkommen identische Lebewesen zu erzeugen, zu klonen, wie man sagt. Am Horizont spekulativer Zukunftsentwürfe taucht die Möglichkeit auf, genidentische Menschen zu machen. Und mit dem Stichwort Cyber Space verbindet man gar die prinzipielle Möglichkeit einer perfekten Reproduktion der Wirklichkeit insgesamt.

Was würde es unter solchen Umständen nützen, wenn z.B. jemand behauptete, ich sei Richard Schindler? Wohl wenig, denn da es unzählige Exemplare dieses Namens geben könnte, hätte, was da behauptet würde, keinen Unterscheidungswert. Auf diesen kommt es aber an. Denn die Frage nach der Identität ist, ganz allgemein gesagt, die die Frage nach der Besonderheit, nach dem, was ein Einzelnes von allen anderen unterscheidet. Diese Unterschiede aber, die das Besondere, Einzelne auszeichnen, werden, wie wir wissen, mit solchen schon nicht mehr phantastischen Möglichkeiten technischer Verfahren immitierbar, simulierbar, reproduzierbar. Und das führt seinerseits zu der ständig wachsenden Schwierigkeit, Imitationen, Simulationen, Reproduktionen als solche überhaupt noch zu erkennen. Angesichts nahezu perfekter Reproduktionen von allem und jedem wird unser Unterscheidungsvermögen auf eine harte Probe gestellt.

An dieser Stelle setzt ein zentrales künstlerisches Anliegen ein: nämlich die Sinne zu sensibilisieren, zu befähigen, auch noch scheinbar unwesentliche Differenzen von Farben, Formen, Tönen etc. wahrzunehmen. Künstlerische Arbeit ist immer auch der Versuch, Unterschiede zu artikulieren, zu formulieren, zu demonstrieren und so für die Wahrnehmung zugänglich zu machen.

Aber mit den Möglichkeiten von Gen-Manipulation und Cyber-Space-Simulation hat sich die Lage dramatisch verändert. Wo Technologien, wie schon Film und Fernsehen, die Sinne regelrecht unterlaufen (die Bilder erscheinen ja nur bewegt, weil unsere Sinne dem schnellen Bildwechsel einfach nicht folgen können), ist die Sensibilisierung der Sinne nicht mehr das entscheidende Problem. Ich will Ihnen die Problemverschiebung, die sich da aufdrängt, an einem Beispiel aus einem Krimi deutlich machen.

Sie kennen die Ausgangssituation: ein Gefangener plant seine Flucht - aber nicht aus dem schwer bewachten Gefängnis, sondern aus dem Krankenhaus. Um zunächst dorthin verlegt zu werden, fingiert er eine Krankheit. Eine Krankheit fingieren bedeutet, sie vorzutäuschen, so zu tun, als ob man die Krankheit hat. Ein erfahrener Arzt und Diagnostiker wird den Schwindel allerdings schnell durchschauen. Ganz anders aber liegt der Fall, wenn der Betreffende die Krankheit nicht fingiert, sondern simuliert. Der Simulant nämlich hat es verstanden, seinen Körper selbst mit künstlichen Mitteln so zu manipulieren, daß er die Symptome der simulierten Krankheit tatsächlich hat. In Krimis kann man lesen, daß man Seife essen muß, um Fieber zu bekommen. Insofern der Simulant aber die Krankheitssymptome tatsächlich hat, ist er auch tatsächlich krank. Das heißt nun aber nichts anderes, als daß die Unterscheidung zwischen der bloß simulierten und der tatsächlichen Krankheit unmöglich ist. Mehr noch: die Unterscheidung ist auch überflüssig. Denn perfekte Simulation ist um nichts weniger real, als die Realität selbst. Wer krank ist, ist krank, egal aus welchen Gründen. Keine Sensibilisierung der Sinne könnte das künstlich Geschaffene vom natürlich Gewordenen unterscheiden.

Wenn dem so ist, dann kann, unter dem Gesichtspunkt perfekter Simulation, nicht mehr sinnvoll gefragt werden: gibt es unverwechselbare Merkmale und wie lassen sie sich zweifelsfrei feststellen. Die Frage ist unter solchen Voraussetzungen eine andere. Und die läßt sich an einem zweiten Aspekt erläutern, der den Fingerabdruck allererst zu einem Identitätsmerkmal macht.

Die ungeheure Bedeutung, die der Fingerabdruck erlangte, hängt sichtlich damit zusammen, daß er ein hervorragendes Mittel war, die chaotisch gewordenen Zustände, vor allem in den Großstädten (durch gewaltigen Bevölkerungszuwachs und steigende Kriminalität) in den Griff zu bekommen. Er war das Mittel im Kampf gegen das Verbrechen und für eine stabile Gesellschaftsordnung. Der Fingerabdruck ist geradezu ein modernes Symbol für die Sehnsucht nach Ordnung, z.B. für die wissenschaftliche Suche nach invarianten Strukturen, in Form von Ordnungsgesetzen der Natur oder Bildungsgesetzen der Geschichte. Der Fingerabdruck kann ein Symbol dafür sein, weil er selbst nicht nur einzigartig,

sondern weil er "zeitlos" ist. Mit dem Fingerabdruck hatte man nämlich nicht nur ein Merkmal gefunden, das jedem Menschen einzigartig ist, sondern zugleich eines, das über die Zeiten hinweg sich selbst gleich bleibt. Es bleibt, was es ist, den Prozessen des Alterns zum Trotz; es erhält sich stabil, ungeachtet allen Werdens und Vergehens. Erst diese Konstanz gegenüber der Veränderung, diese tendenzielle Überwindung der Zeit, macht den Fingerabdruck zum Merkmal der Identität und zum möglichen Symbol für die Sehnsucht nach Ordnung, von der ich Ihnen gesprochen habe. Gegen die Zeit ist der Fingerabdruck ein Gleichbleibendes, Identisches.

Nun nennt man dasjenige, das sich allem Werden entzieht, das, was nicht vergeht, seit alters her: das Ewige. Gewiß, das Fingerbild ist nicht ewig. Eine bestimmte Zeit nach dem Tode eines Menschen ist auch dieses Merkmal vergangen. Seine Widerständigkeit gegen die Zeit ist nur bezogen auf die Lebenszeit eines Menschen - es vergeht mit diesem. Aber genau dies gilt nicht mehr, wenn es möglich ist, eine exakte Kopie eines Menschen herzustellen.

Es könnte sein, daß mit der Möglichkeit, vollkommen Identisches herzustellen, tatsächlich auch Vergänglichkeit und Tod, die Zeit überwunden wird. Was allem Werden entgegensteht, was sich aller Veränderung entzieht, ist unsterblich. Anders gewendet: wenn durch perfekte Simulation das Moment der Einmaligkeit und Besonderheit verloren gehen sollte, wenn es das Unverwechselbare Einzelne nicht mehr geben sollte, was geschieht dann mit der Frage nach der Zeit? Vergänglichkeit und Tod - was bedeuten diese Worte dann noch?

Ich denke, daß Utulpia Heidelbergensis, die drei Uhren, die Postkartensammlung, die Tapete, die Bildreproduktion, die Rekonstruktion des Bildes, die künstliche Tulpe, daß sie auch damit etwas zu tun haben. Utulpia Heidelbergensis ist auch ein Fall von Identität und formuliert das Problem der Zeit. Es führt die Schönheit, aber auch die Leblosigkeit des Unsterblichen vor Augen. Und zwar ungeachtet und jenseits der Frage, wer ich bin.


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